Replace: „Für den Wandel hin zu einer human-relevanten Forschung bedarf es einer angepassten Aus- und Weiterbildung und neuer Expertisen“

Wir sprachen mit Professor Dr. Peter Loskill und Dr. Silke Keller vom 3R-Center Tübingen über die Notwendigkeit, ein Bewusstsein für neue interdisziplinäre Ansätze zu schaffen, um Tierversuche durch Alternativmethoden zu ersetzen.

Eine Hand in einem grünen Handschuh hält einen BioChip. Eine Hand in einem grünen Handschuh hält einen BioChip. - öffnet vergrößerte Ansicht
Im 3R-Center Tübingen wird an der Entwicklung und Qualifizierung von Organ-on-Chip (OoC)-Systemen und Enabler Technologien sowie an der Anwendung von OoC-Modellen für die Grundlagenforschung, Arzneimittelentwicklung / pharmakologische Forschung, die personalisierte Medizin, den Verbraucherschutz und die Toxikologie gearbeitet. Quelle: 3R-Center-Tübingen

Was waren Ihrer Meinung nach im Forschungsfeld „Replace“ wichtige Meilensteine auf dem Weg zu einer tierversuchsfreien Forschung?

Der Weg hin zu einer tierversuchsfreien Forschung ist noch weit und in dieser Absolutheit unklar, ob sie überhaupt zu erreichen ist. Dennoch konnten bereits viele bahnbrechende Erfolge gefeiert werden, die uns gemeinsam unserem Ziel, Tierversuche und den Einsatz von Tieren wo immer möglich zu ersetzen, signifikant näherbringen. Wir denken dabei beispielsweise an Meilensteine wie die Entdeckung induzierter pluripotenter Stammzellen (iPSCs), die Etablierung von Organoid-Kulturen oder die Entwicklung der Organ-on-Chip-Technologien.

Es stimmt durchweg hoffnungsvoll zu sehen, dass insbesondere die pharmazeutische Forschung längst umdenkt und zur Erkenntnis gekommen ist, dass die Zukunft in human-relevanten Modellen liegt, die die Forschung für den Menschen voranbringen. So stellt zum Beispiel ganz aktuell der FDA Modernization Act 2.0 einen solchen Meilenstein dar, durch den die ursprüngliche gesetzliche Vorgabe gekippt wurde, dass Medikamente vor den klinischen Versuchen am Menschen zwangsläufig in Versuchstieren getestet werden müssen. Damit wurden nicht nur alte und nicht mehr dem Stand der Wissenschaft entsprechende Strukturen aufgebrochen, sondern auch der Weg dafür geebnet, dass alternative Testmethoden, wie zum Beispiel Organ-on-Chip-Systeme fortan zur Untersuchung der Sicherheit und Wirksamkeit von Arzneimittel für den Menschen offiziell angewandt und verwendet werden dürfen.

Was war ein Schlüsselmoment für Sie in Ihrer bisherigen Karriere in Bezug auf Alternativmethoden?

Persönliche Schlüsselmomente stellen für uns immer Kooperationen mit Partnern dar, in denen unsere neu entwickelten Modelle es ermöglichen, bisher nicht mögliche Studien durchzuführen. Wenn wir gemeinsam Daten und Resultate generieren, bei denen sich zeigt, dass sie der klinischen (Patho)Situation im Menschen entsprechen, dann ist das immer ein großer Erfolg für uns, der uns dazu motiviert, weiterzumachen und dranzubleiben. Insbesondere wenn die Daten den Weg für die Zulassung des neuen Therapeutikums für klinische Studien geebnet haben, ist das eine großartige Bestätigung, dass wir auf dem richtigen Weg sind.

Welche Herausforderungen und Schwierigkeiten gibt es beim Ersatz von Tierversuchen durch neue Methodiken?

Eine große Herausforderung stellt häufig das falsche Verständnis dar, dass es beispielsweise darum geht, einen Tierversuch 1:1 durch eine Alternativmethode zu ersetzen. Es ist wichtig zu verstehen, dass neuartige Technologien und Methoden neue Daten und vor allem neue Möglichkeiten hervorbringen, die dann im Gesamtkontext die Notwendigkeit von Tierversuchen verringern.

Konkrete Herausforderungen sind auch die Validierung von Alternativ- oder Komplementärmethoden sowie der mitunter limitierte Zugang zu klinischen Daten als wichtige Benchmarks. Neben der Förderung der Entwicklung neuer Ersatzmethoden, die noch stark ausbaufähig ist, ist auch die Förderung von Validierungs- und Vergleichsstudien essenziell. Eine weitere Schwierigkeit besteht in der komplexen Versuchsdurchführung bei Studien mit neuartigen mikrophysiologischen Gewebemodellen. Hier wird einerseits die Entwicklung von Enabler-Technologien und die Standardisierung benötigt. Andererseits ist es unbedingt notwendig, spezialisierte Infrastrukturen zu schaffen, die einen niederschwelligen Zugang gewährleisten. Auch mit der Schwierigkeit, dass alte Gewohnheiten sich in der akademischen Welt nach wie vor zum Teil hartnäckig halten, müssen wir uns auseinandersetzen. Wir brauchen den vertrauensvollen, transparenten und evidenzbasierten Dialog, um davon wegzukommen, dass Gutachterinnen und Gutachter allgemein nach Tierversuchsdaten verlangen oder dass gestandene tierexperimentell arbeitende Forschende den Schritt zu Alternativen scheuen. Für den konsequenten Wandel hin zu einer human-relevanten Forschung bedarf es einer angepassten Aus- und Weiterbildung der (Nachwuchs-)Forschenden und neuer Expertisen.

Welche Ziele verfolgt das von Ihnen beiden geleitete 3R-Center Tübingen und wie kann man sich hier einbringen?

Mit unserem 3R-Center Tübingen möchten wir Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern einen niederschwelligen Zugang zu modernen In-vitro-Modellen ermöglichen und durch die Stärkung der Forschungskompetenzen ein breites, interdisziplinäres Bewusstsein für diese neuen Ansätze schaffen. An der Schnittstelle zwischen Forschung, Politik, Lehre und der breiten Öffentlichkeit arbeiten wir eng mit den Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträgern der regulatorischen Behörden und der Politik sowie den potenziellen Nutzerinnen und Nutzern dieser Ersatz- und Alternativmethoden zusammen. Wir informieren Forschende, Klinikerinnen und Kliniker, Politikerinnen und Politiker sowie die breite interessierte Öffentlichkeit über die 3R-Aktivitäten in Baden-Württemberg und bieten fachspezifische Seminare und Weiterbildungsworkshops für die einzelnen Zielgruppen an. Darüber hinaus beteiligen wir uns aktiv in der baden-württembergischen universitären Lehre.
Alle Interessierten laden wir herzlich zur Teilnahme an unserer interaktiven 3R-Webinarserie „#Talking3RScience“ ein, die an jedem letzten Donnerstag im Monat von 17-18 Uhr online stattfindet.

Herr Professor Loskill, noch eine letzte Frage an Sie: Sie haben 2016 das µOrganoLab gegründet. Können Sie uns über die Motivation und die Pläne berichten?

Im µOrganoLab arbeiten wir an der Entwicklung und Anwendung innovativer Technologien, die unter anderem neue Therapiemöglichkeiten für Patientinnen und Patienten und eine bessere Toxizitätsüberprüfung von Chemikalien ermöglichen. Dabei kombinieren wir Methoden und Konzepte unterschiedlichster Disziplinen, um Organ-on-Chip-Systeme sowie Enabler-Technologien zu entwickeln und diese zum besseren Verständnis der menschlichen Biologie und Gesundheit einzusetzen. Unser internationales und interdisziplinäres Team an der Universität Tübingen und dem NMI Reutlingen bildet eine Brücke zwischen der Grundlagen- und der translationalen Forschung. Wir sind angetrieben von der gemeinsamen Vision, den Einsatz und die Notwendigkeit von Tierversuchen nach dem 3R-Prinzip zu reduzieren, die Übertragbarkeit präklinischer Ergebnisse auf die klinischen Phasen zu erhöhen und damit die Entwicklung neuer Therapieansätze kostengünstiger, sicherer und schneller zu machen.

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